Kailash - Tibets heiliger Berg

Der Tag der Tage ist da. Nach zwei Wochen in Tibet stehe ich morgens um 8 Uhr vor dem klösterlichen Gästehaus auf der Nordseite des Kailash. Im Tal ist es noch kalt und schattig, während ich warm eingepackt Richtung Dolma La Pass marschiere, der auf 5630 Metern liegt. Obwohl – Tal ist wohl nicht der richtige Ausdruck. Wir befinden uns bereits auf 4900 Meter. Und marschieren tue ich auch nicht. Die Höhe macht uns allen zu schaffen, wir gehen langsam und konzentriert den steilen Pfad hoch. Alle sind mit sich selbst beschäftigt.

Ich gehe zehn Schritte, bevor ich mich auf meine Stöcke stütze und versuche, tief einzuatmen. Doch eine Bauchatmung ist unmöglich; nach einigen oberflächlichen Atemzügen mache ich die nächsten zehn Schritte. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass mir die Höhe so zusetzt. Zum Glück – sonst hätte ich mich vielleicht nicht auf dieses Abenteuer, den heiligen Berg Kailash zu umrunden, eingelassen. Obwohl das ein langjähriger Herzenswunsch von mir war.

Seit mir als damals 33-jährige Auslandredaktorin unser Indien-Korrespondent vom Kailash erzählte. Er ist für vier Religionen – Hinduismus, tibetischer Buddhismus, Jainismus und Bön – der heiligste Berg überhaupt. Das «kostbare Schneejuwel», wie er übersetzt heisst, gilt als Mittelpunkt der Welt, ist der Wohnsitz des Gottes Shiva und seiner Gemahlin Parvati und wurde noch nie bestiegen. Nur der grosse Yogi Milarepa soll den Gipfel um 1100, auf einem Sonnenstrahl sitzend erreicht haben, ohne ihn jedoch zu berühren. Den Kailash einmal zu umrunden bedeutet, das Karma eines ganzen Lebens abzulegen; die Gläubigen, die ihn umrunden, indem sie sich ununterbrochen niederwerfen, entledigen sich des Karmas sämtlicher Inkarnationen.

Der Kailash in der Morgensonne.

Ein Lehrstück in Demut

Bereits in Lhasa, auf 3600 Meter Höhe, wo wir unsere Reise beginnen, erlebe ich die Auswirkungen der Höhenkrankheit. Ich liege einen Tag flach und erbreche das bisschen Wasser, das ich zu trinken versuche. Kurzatmigkeit, pochende Kopfschmerzen, besonders in der Nacht, und ein Schwächegefühl sind regelmässige Begleiter von uns allen.

Unangenehm durchaus, doch auch ein Lehrstück in Demut und Loslassen: Mit dem Kopf etwas durchstieren zu wollen geht auf dieser Höhe nicht. Es geht darum, jeden Tag zu akzeptieren, wie er kommt, und ich weiss bis zum Schluss nicht, ob es möglich sein wird, den Kailash zu umrunden oder ob mein Körper streiken wird.

Auf dieser Höhe spielt es keine Rolle, wie alt oder fit jemand ist. Ein Trost ist die Aussage des spirituellen Lehrers Sadhguru, die ich kurz vor der Abreise auf YouTube gehört habe: «Es geht nicht darum, etwas erreichen zu wollen, sondern dich dem Kailash zur Verfügung zu stellen.» - Wir schaffen alle die 52 Kilometer lange Kora. Die starke Energie dieses mächtigen Berges hilft zweifellos.

Bereits als wir nach 1200 Kilometern quer durch Tibet zum ersten Mal den Kailash sehen, ist seine Macht und Energie spürbar – auch wenn er noch weit weg und in Dunst gehüllt ist. Als wir in Darchen ankommen, dem Ausgangspunkt für die Umrundung, leuchtet der Schnee auf seiner Spitze hell. Es ist offensichtlich, dass ich hier nicht einfach einem Berg gegenüberstehe, sondern einer mächtigen Wesenseinheit.

Ich habe einen herzförmigen Stein aus der Schweiz mitgebracht, den ich an der Stelle wenige Kilometer ausserhalb von Darchen hinlege, wo die Opfergaben für den Kailash dargebracht werden. Wie viele andere knie ich mich immer mal wieder ehrfürchtig auf dem staubigen Pfad hin und berühre den Boden mit der Stirn. Nicht, weil ich muss, sondern weil es mir ein tiefes Bedürfnis ist, diesen heiligen Berg zu ehren.

Ein tibetischer Mönch wirft papierne Gebetsfahnen in die Luft.

Gehen ist ein Gebet

So sitze ich vor dem Aufstieg zum Pass in der kalten Abendluft auf einen Stein und singe aus vollem Herzen eine Stunde lang das Mantra «Om Namah Shivaya». Auch dies ist eine Ehrerbietung gegenüber Shiva, dem grössten aller Yogis. Plötzlich bricht die Wolkendecke auf und ein Sonnenstrahl taucht die Spitze dieser makellosen Schneepyramide in warmes Licht.

Ich befinde mich auf einer Pilgerreise und mein Gehen ist mein Gebet. Wenn es körperlich richtig anstrengend wird, wird mein Kopf völlig leer und ich bin verbunden – mit den Bedürfnissen meines Körpers und mit der Umgebung. Nichts anderes ist von Bedeutung. Plötzlich verstehe ich, um was es bei einer Gehmeditation wirklich geht.

Lust, einmal nach Indien zu reisen? Hier sind die nächsten Reisen, die ich begleite.

Zurück
Zurück

Beschäftigung mit dem Jenseits

Weiter
Weiter

Medialität - über den physischen Körper hinausgehen